Ein wichtiger Teilschritt bei der
Bewertung von Handlungsmöglichkeiten (
Investitionsprojekten) besteht in der Schätzung der durch die Handlungsmöglichkeit ausgelösten Zahlungen. Im
Leitfaden zur Investitionsrechnung ist dies der Schritt 3. Dazu wird üblicherweise die Differenzmethode eingesetzt. Mit ihr wird die Wirkung einer Handlungsmöglichkeit gegen die Situation ohne diese
Handlungsmöglichkeit (auch Null-Alternative oder Do-nothing Fall genannt) ermittelt. Es werden somit die zusätzlichen, nur durch die Handlungsmöglichkeit ausgelösten Zahlungen bzw.
Zahlungsänderungen gesucht.
In der Praxis können bei dieser Ableitung einige Fehler passieren, die es zu vermeiden gilt. Im ersten Schritt kann das Problem vereinfacht werden, indem Wirkungen, die bei allen Handlungsmöglichkeiten gleich sind, vernachlässigt werden. Wenn eine Privatperson eine Wohnung kauft, werden sich die Kosten für das Wasser, das Telefon, die Müllentsorgung usw. nicht ändern und brauchen somit nicht geschätzt zu werden (allerdings müssen sie in der
Finanzierung berücksichtigt werden).
Wenn ein Unternehmen sich zwischen verschiedenen LKW entscheiden muss, die alle bestimmte Spezifikationen erfüllen, kann es sich auf die
Auszahlungen bzw.
Auszahlungsänderungen konzentrieren, die durch den Kauf des jeweiligen LKW ausgelöst werden. Die
Einzahlungsseite wird von der Entscheidung nicht beeinflusst und braucht daher nicht geschätzt zu werden.
Für eine gute
Investitionsbewertung ist es wichtig, dass möglichst alle wichtigen Konsequenzen erfasst werden. Häufig wird in der Analyse vergessen, den sogenannten
Kannibalisierungseffekt zu erfassen. Dieser besteht in der teilweisen Verdrängung schon existierender Produkte. Denn wenn ein Unternehmen ein neues Produkt oder eine zusätzliche
Produktvariation auf den Markt bringt, dann hat das fast immer negative Auswirkungen auf die bestehenden Produkte. Führt ein Hersteller von Joghurts eine neue Fruchtsorte ein, werden viele Verbraucher, welche das neue Produkt ausprobieren wollen, die "alten" Sorten liegen lassen.
Falls das neue
Produkt in der Positionierung zu nahe an den bestehenden liegt, kann es sogar sein, das ein vollständiger Austausch von alt zu neu stattfindet. Das wäre eine Katastrophe, weil die
Produktentwicklung, die Werbung, die Listungsgelder, neue Maschinen usw. hohe
Anfangsinvestitionen erfordern, ohne dass zusätzliche Einzahlungen generiert würden. Da eine Investitionsbewertung unbedingt auf die richtige Ableitung von Zahlungen angewiesen ist, soll in einem Beispiel gezeigt werden, wie die Probleme gelöst werden können. In der folgenden Tabelle sind die Daten eines neuen Produktes und eines dadurch
kannibalisierten Produktes aufgeführt.
Im ersten Schritt werden die
Ein- und Auszahlungen des neuen Produktes ermittelt. Dazu müssen die Mengen und die
Nettopreise (also nach Abzug aller Rabatte) eines jeden Jahres geschätzt werden (Zeile 1 und 2). Durch Multiplikation entsteht in Zeile 3 der jährliche Nettoumsatz. Er fällt im Durchschnitt zur Jahresmitte an. Da die
Investitionsrechnung aber implizit davon ausgeht, dass alle Zahlungen am Jahresende anfallen, ist eine
Datenaufbereitung notwendig.
Wenn keine
Zahlungsziele vorliegen, muss um 6 Monate aufgezinst werden. Mit einem
Zahlungsziel von 1,5 Monaten (siehe Zeile 4) verringert sich die Aufzinsung bis zum Jahresende auf 4,5 Monate. Damit ergibt sich dann in Zeile 5 die Einzahlung von 49089 € am Ende des ersten Jahres. Die variablen
Periodenkosten werden auf ähnliche Weise in Auszahlungen umgerechnet. Durch Saldierung der Ein- und Auszahlung erhält man in Zeile 10 den Zahlungssaldo, der direkt durch das neue Produkt ausgelöst wird.
Monatszinssatz: 0,5 %:
Jahresende
|
1
|
2
|
3
|
4
|
5
|
Neues Produkt
|
Einheit
|
|
|
|
|
|
Mengen
Nettopreis
Nettoumsatz
Zahlungsziele
Einzahlungen
Variable Stückkosten
Variable Kosten
Kapitalbindung
Auszahlungen
|
Tsd ME/Pe
€/ME
T€/Pe
Monate
T€ am PE
€/ME
T€/Pe
Monate
T€ am PE
|
4000
12,00
48000
1,5
49089
5,00
20000
3
20918
|
4000
13,00
52000
1,5
53180
4,90
19600
2,5
20449
|
5000
12,00
60000
2,0
61209
4,80
24000
2,5
25039
|
4000
11,50
46000
3,0
46693
4,70
18800
2,5
19614
|
3000
11,00
33000
4,0
33331
4,60
13800
2,5
14398
|
Zahlungssaldo
|
T€ am PE
|
28171
|
32731
|
36170
|
27079
|
18933
|
Kannibalisiertes Produkt
|
|
|
|
|
|
Kannibalisierungsrate
Mengen
Nettopreis
Nettoumsatz
Zahlungsziele
Einzahlungen
Variable Stückkosten
Variable Kosten
Kapitalbindung
Auszahlungen
|
Tsd ME/Pe
€/ME
T€/Pe
Monate
T€ am PE
€/ME
T€/Pe
Monate
T€ am PE
|
30 %
-1200
10,00
-12000
3,0
-12181
4,00
-4800
2
-4995
|
35 %
-1400
10,00
-14000
3,0
-14211
3,80
-5320
2
-5537
|
40 %
-2000
10,00
-20000
3,0
-20302
3,70
-7400
2
-7701
|
45 %
-1800
10,00
-18000
3,0
-18271
3,60
-6480
2
-6744
|
50 %
-1500
10,00
-15000
3,0
-15226
3,50
-5250
2
-5464
|
Zahlungssaldo
|
T€ am PE
|
-7186
|
-8674
|
-12600
|
-11528
|
-9762
|
Gesamtsaldo
|
T€ am PE
|
20986
|
24057
|
23569
|
15552
|
9171
|
€/Pe: Euro in der betrachteten Periode; € am PE: Euro am Periodenende; Tabelle: Dr. Peter Hoberg
Im Weiteren ist jedoch zu berücksichtigen, dass ggf. andere Produkte durch die
Neueinführung leiden. Dies ist beispielhaft in der zweiten Hälfte der Tabelle abgebildet. Für Zeile 11 ist zunächst zu schätzen, in welchem Ausmaß das alte Produkt kannibalisiert wird. Anhand früherer Erfahrungen und
Marktforschungsdaten ist dies häufig möglich. Die Auswirkungen auf die Zahlungen werden wie beim neuen Produkt geschätzt, so dass in Zeile 21 der gesamte Kannibalisierungseffekt erscheint.
Dieser kann nun vom
Zahlungssaldo des neuen Produktes abgezogen werden, so dass man die Zahlungsreihe erhält, die durch die Vermarktung des neuen Produktes ausgelöst wird. Diese Werte müssen ausreichen, um die noch nicht aufgeführten Anfangsinvestitionen in Maschinen und in den Markt abzudecken. Diese Kalkulation ist am besten mit dem Verfahren des
Vollständigen Finanzplans durchzuführen.
letzte Änderung P.D.P.H.
am 13.04.2023
Autor:
Dr. Peter Hoberg, Worms
|
Autor:in
|
Herr Prof. Dr. Peter Hoberg
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Worms. Seine Lehrschwerpunkte sind Kosten- und Leistungsrechnung, Investitionsrechnung, Entscheidungstheorie, Produktions- und Kostentheorie und Controlling. Prof. Hoberg schreibt auf Controlling-Portal.de regelmäßig Fachartikel, vor allem zu Kosten- und Leistungsrechnung sowie zu Investitionsrechnung.
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