Multiple Kannibalisierung bei Produktvariationen

Prof. Dr. Peter Hoberg
Viele Unternehmen versuchen, mit verschiedenen Produktvarianten ihre Marktpotentiale möglichst weitgehend auszuschöpfen. Dies gilt z. B. für die Autoindustrie, aber insb. für die Hersteller von schnell drehenden Konsumgütern (Fast Moving Consumer Goods = FMCG). Mögliche Entscheidungen zur Produktvariation können mindestens 4 Dimensionen beinhalten:
  1. Neue Variationen des Produktes selbst: In einem Beispiel von Cola–Getränken können das neben den Standardangeboten auch Produkte mit weniger Zucker, Stevia oder mit verschiedenen Süßstoffen sein. Aber auch der Zusatz von Vanille oder Kirsch wird beobachtet. 
  2. Unterschiedliche Verpackungen: Getränke können z. B. in Dosen oder Flaschen (Einweg oder Mehrweg) verpackt werden. 
  3. Verschiedene Packungsgrößen: Zwischen 100 ml und 2000 ml findet man viele übliche Zwischengrößen.
  4.  Mehrstückverpackungen: Neben den berühmten Six–Packs werden viele weitere Kombinationen in den Markt eingeführt. Es gibt wohl kaum eine Mehrstückverpackung, die nicht schon ausprobiert wurde.

So könnte im Extremfall eine 3–stellige Anzahl an Varianten (SKUs = Stock Keeping Unit) entstehen. Auch für die kleinste Zielgruppe soll es dadurch das genau passende Angebot geben. Ein Traum für die Marketingmanager; zumindest auf den ersten Blick…

Grundlagen

Durch das Eingehen auf fast alle Kundenwünsche entsteht eine SKU–Vielfalt, welche die Produktion und die Logistik des Herstellers zur Verzweiflung bringen kann. Aber auch beim Handel wird die Einlistungsentscheidung sehr aufwändig, weil er ja nicht nur dutzende Varianten Cola einer Marke verkaufen will.

Für die Einführung einer neuen Variante gibt es zwei Extremfolgen:
  • Im negativen Fall werden die Verkäufe der neuen Variante dazu führen, dass es ähnlich hohe Mengenrückgänge bei den bisherigen Variationen gibt. Es findet dann mehr oder weniger ein Mengenaustausch statt. Dies wird Kannibalisierung genannt. Der Deckungsbeitrag steigt nicht oder nur minimal, aber es fallen hohe Kosten für die Markteinführung (Produktentwicklung, Listungsgelder, Werbung usw.) an. 
  • Im Optimalfall hingegen wird eine neue Zielgruppe erfolgreich angesprochen, welche noch nicht zu den Verwendern gehörte, so dass es kaum Kannibalisierungen gibt. Damit stehen zusätzliche Deckungsbeiträge zur Verfügung, um die Startkosten abzudecken.

Die Realität wird sich dazwischen abspielen, wobei die Quantifizierung der Kannibalisierungseffekte nicht einfach ist. Das Problem auf der Kostenseite liegt darin, dass die erhöhte SKU–Anzahl zu wesentlich höherer Komplexität in allen Bereichen führt, was nur sehr aufwändig gemessen werden kann.

Untersuchungen (Vgl. Kortmann, S. 63) zeigen, dass viele Kostenarten um ca. 20% steigen, wenn sich die Anzahl der Produkte verdoppelt. Auch wenn dieser Prozentsatz je nach Unternehmen und Produktgruppe schwanken dürfte, ist klar, dass eine sehr große Produktvielfalt das Unternehmensergebnis verschlechtern kann. Gründe sind u. a.:
  • häufigere Produktwechsel mit den daraus resultierenden Stillstandskosten, 
  • geringere Einkaufsmengen pro Produktvariation, 
  • höhere Listungsgelder, mehr Lagerplatz 
  • usw. 

Das Gefährliche daran ist, dass das Rechnungswesen diese Effekte nur unzureichend ausweist. Es sind gesonderte Studien notwendig.

Zudem müssen die Einflüsse im Zeitablauf gesehen werden. Denn die Einführung einer neuen Variante zieht eine Reihe von Konsequenzen nach sich. Hier sind insbesondere die Reaktionen der Wettbewerber und die der Verbraucher zu nennen. Dazu kommen die Rückwirkungen der Entscheidungen aller Marktteilnehmer auf die Sortimentsänderungen der jeweils anderen Unternehmen. Ein zu zersplittertes Produktprogramm führt zu großen Problemen.

Beispiel: Sortimentsstraffung bei VW

So muss der VW–Konzern eine Vollbremsung hinlegen und muss/will zahlreiche Varianten einstellen, um in den Kernmarken wieder profitabel zu werden (vgl. Handelsblatt.de 13.6.2023).

Dabei wird die Profitabilität mit der Ebit–Marge berechnet, was insb. die Kapitalkosten nicht berücksichtigt, so dass nach deren Berücksichtigung die Kernmarken nicht schwach profitabel sind, sondern tiefrot (vgl. zu den Gefahren der Verwendung der Ebit–Marge Hoberg (2016), S. 1029 ff.). Am Rande sei bemerkt, dass die Ankündigung des VW–Chefs zu hohen Gewinnsteigerungen sehr leichtsinnig ist, weil die hohen Extragewinne durch die E–Autoförderung, die fast ganz in den Taschen der Autohersteller gelandet sind, demnächst wegfallen und die aufgrund von Lieferproblemen extrem angezogenen Preise bereits wieder im Fallen begriffen sind.

Kannibalisierungen durch zusätzliche Mehrstückverpackungen

Fast immer müssen Unternehmen damit rechnen, dass durch die Einführung neuer Produktvariationen die bereits eingeführten Produkte leiden werden. Als Beispiel wird ein Hersteller gewählt, der in der Ausgangssituation 1er, 6er, 10er und 20er Packungen in PET–Flaschen (mit Einweg–Pfand) anbietet und jetzt prüft, ob noch ein 4er sinnvoll sein kann. Der Einzelpack hat dabei immer die gleiche Größe, was für die Kosten positiv ist, weil nur auf der Sekundärverpackungsseite differenziert werden muss.

Das Problem der optimalen Anzahl an Mehrstückverpackungen wird auch noch dadurch kompliziert, dass die Kunden auch andere Packungsgrößen oder sogar andere Verpackungen, z. B. die Dose oder die Glasflasche wählen können. Zudem wird der Handel nicht bereit sein, alle Mehrstückverpackungen zu listen. Es muss daher im Vorfeld eine Vorselektion nach Geschäftsart stattfinden.

In kleinen Conveniencegeschäften und Tankstellen macht eine 20er Packung für den Endverbraucher fast nie Sinn. Somit müssen auch im Absatzkanal mehrere möglichst homogene Gruppen von Abnehmern definiert werden, für die jeweils speziell das Sortiment und die Folgen der Neueinführung eines 4ers untersucht werden müssen. Zusätzlich kann es allerdings sein, dass insb. kleinere Geschäfte Mehrstückverpackungen bestellen und dann die Inhalte einzeln verkaufen. Dies kann aus Preisgründen geschehen oder auch aus Gründen der Transportierbarkeit. Eine neue Mehrstückverpackung – z. B. ein zusätzlicher 4er neben dem Sixpack – kann dann
  1. zusätzlich von den bisherigen Kunden gekauft werden, 
  2. von neuen Kunden erworben werden oder 
  3. anstelle einer alten gewählt werden (Kannibalisierung).

Ziel des Unternehmens ist es, die Mehrstückverpackung so zu gestalten, dass die Fälle a) oder b) überwiegen. Häufig muss das Unternehmen aber zumindest teilweise mit Fall c) rechnen, so dass die neue Variante auf Kosten der alten gewählt wird. Dann muss kalkuliert werden, ob die zusätzlichen Deckungsbeiträge des neuen Produktes größer sind als
  1. die anteiligen zusätzlichen Investitionen (in Markt, Handel und Maschinen) plus 
  2. die verlorenen Deckungsbeiträge der kannibalisierten Produkte.

Die Kalkulation sollte über die erwartete Lebensdauer der neuen Variation durchgeführt werden. Es geht also um eine Investitionsrechnung, die am besten mit Vollständigen Finanzplänen (VoFis) umgesetzt wird (vgl. Varnholt/Hoberg/Gerhards/Wilms, S. 55 ff.).

Zur Abschätzung der bewerteten Kannibalisierungswirkungen ist im ersten Schritt eine Mengenanalyse notwendig, welche zeigt, wie sich die bisherigen Kunden der Einzelflasche bei dem neuen 4er Angebot umentscheiden werden. Mit Hilfe von Scannerdaten von ausgewählten Geschäften können die notwendigen Daten z. B. im Rahmen eines begrenzten Markttestes erhoben werden und insb. die Anpassungsreaktionen analysiert werden. Eine solche Änderung wird in der folgenden Tabelle 1 gezeigt:

Vertriebskanal 1:

Flaschen vorher Kaufakte Übergang
Nachher 1er
Nachher 4er
Saldo
pro Kauf
in BE
(Kunden)
in BE
(Flaschen)
zu 4er
1er
1er in BE
4er
4er in BE
in BE
1 30 30 10 % 27 27 3 12 39
2 25 50 60 % 10 20 15 60 80
3 10 30 80 % 2 6 8 32 38
4 5 20 100 % 0 0 5 20 20

70 130
39 53 31 124 177
BE: Basiseinheiten à 1 Stück
Tabelle 1: Geplante Mengenänderung durch den neuen 4er Pack für kleine Geschäfte

Tabelle 1 enthält die wöchentlichen Daten für ein kleines Geschäft, welches typisch für den Vertriebskanal 1 sei. Danach haben in einer Woche 70 Kunden das Produkt gekauft, aber in unterschiedlichen Mengen, so dass die Gesamtmenge 130 Flaschen pro Woche für den betrachteten Geschäftstyp betrug.

Nun muss abgeschätzt werden, wie sich die einzelnen Kaufakte ändern. Diejenigen, die bis jetzt nur 1 Flasche gekauft haben, werden nur in wenigen Fällen einen 4er kaufen. Die Übergangsrate wird somit nur auf 10% geschätzt. Umgekehrt werden diejenigen, die bereits früher 4 Flaschen – aber einzeln – gekauft haben, gerne auf den 4er übergehen, weil er pro Flasche etwas günstiger ist und praktischer.

Insgesamt wird die Gruppe der alten 1er Käufer dann 31 4er pro Woche kaufen, was 124 Basiseinheiten entspricht. Als Preis dafür geht die 1er Menge von 130 auf 53 zurück. Es findet eine partielle Kannibalisierung statt. Insgesamt sieht es aus der Mengenperspektive gut aus, weil der Verkauf an Basiseinheiten von 130 auf 177 gestiegen ist. Das Projekt sollte somit weiter untersucht werden, indem im nächsten Schritt eine finanzielle Analyse durchgeführt wird. Die Regel lautet, dass die zusätzlichen Deckungsbeiträge der nächsten Jahre über den Einführungskosten liegen müssen, wobei ggf. Abzinsungen vorgenommen werden müssen.

Handelskunden mit mehreren Gebinden

Nun sei ein größerer Kunde betrachtet, der bereits Six–Packs und auch größere Mehrstückverpackungen verkauft. Bei diesen Käufern wird angenommen, dass statt 50 Six–Packs nur noch 15 verkauft werden, weil 35 Personen nur noch den 4er kaufen anstelle des Six–Pack (siehe Tabelle 2, Zeile 1 und 5). Dazu sei unterstellt, dass die 4er Packung auch noch von weiteren Kunden gekauft wird, die bisher keine Flaschen gekauft haben. Dazu mögen weitere Mengen von den ebenfalls vermarkteten Sixpack–Dosen kommen. Die anderen seien Neukunden für das Unternehmen, was besonders angestrebt wird, weil dadurch keine Kannibalisierungen entstehen.

Vertriebskanal 2:

  Anzahl Einheiten pro Mehrstückverpackung
  1 4 6 10 20 Saldo
1
2
3
4
Mengen alt in ME/Woche
Verkaufsanteile alt
Basiseinheiten gesamt
Anteile alt
100
50 %
100
10 %
0
0 %
0
0 %
50
25 %
300
30 %
40
20 %
400
40 %
10
5 %
200
20 %
200
100 %
1.000
100 %
5
6
7
8
Mengen neu in ME/Woche
Verkaufsanteile neu
Basiseinheiten gesamt
Anteile neu
40
21 %
40
4 %
100
51 %
400
39 %
15
8 %
90
9 %
30
15 %
300
29 %
10
5 %
200
19 %
195
100 %
1.030
100 %
9
10
Mengenänderung %
Mengenänderung absolut
–60 %
–60
n.a.
400
–70 %
–210
–25 %
–100
0 %
0
3 %
30
Tabelle 2: Geplante Mengenänderungen bei neuem 4er Gebinde in Vertriebskanal 2

Insgesamt möge gemäß den Prognosen wöchentlich mit 100 4er–Packungen pro Geschäft (siehe Zeile 5 in Tabelle 2) gerechnet werden, was 400 Einzelpackungen (Basiseinheiten) entspricht (siehe Zeile 7). Damit kann dann Bilanz gezogen werden. Im oberen Kasten finden sich die Mengen vor Einführung des neuen 4ers. Angegeben sind die wöchentlich verkauften Mengen in dem durchschnittlichen Geschäft im Vertriebskanal 2.

Der zusätzliche 4er soll wöchentlich 400 Basiseinheiten bringen. Aber dieser Erfolg wird durch die oben beschriebenen Kannibalisierungen der Einzelflaschen und der Six–Packs reduziert. Die obigen Zahlen können nur Schätzungen sein. Dabei muss berücksichtigt werden, dass es auch zu Reaktionen der Konkurrenz kommt. Das muss so gut wie möglich antizipiert werden (vgl. Hoberg (2017), S. 30 ff.).

In den unteren beiden Zeilen 9 und 10 können die mengenmäßigen Gesamtwirkungen abgelesen werden. Die Anzahl der Gebinde bleibt gleich, aber insb. durch den Wechsel vom 1er auf den 4er wird etwas mehr Menge verkauft: +3%. Nach Umsetzung der neuen Sortimentsstruktur mit dem zusätzlichen 4ern können die neuen Mengen nicht sofort erhoben werden, weil abgewartet werden muss, wie sich das Kaufverhalten einpendelt. Es kann durchaus sein, dass einige frühere 6er Käufer zurückkehren oder auf der anderen Seite sogar 2 x 4er kaufen. Erst nach Analyse dieser Bewegungen darf der zweite Kasten mit Istdaten gefüllt und dann analysiert werden.

Deckungsbeitragsanalyse

Die beiden Beispiele haben gezeigt, dass die Mengen negativ unter Kannibalisierungseffekten leiden, so dass das Absatzwachstum begrenzt bleibt. Es ist jetzt zu untersuchen, wie hoch die zusätzlichen Deckungsbeiträge sind, bevor dann mit Hilfe der Investitionsrechnung ein Gesamtvergleich angestellt werden kann. In der folgenden Tabelle 3 finden sich die Annahmen zu den notwendigen Daten, welche die Deckungsbeitragsrechnung erfordert:

  Anzahl Einheiten pro Mehrstückverpackung
  1 4 6 10 20 Saldo
1
2
3
4
Basiseinheiten alt
Basiseinheiten neu
Nettopreise in €/ME
Nettopreise in €/BE
100
40
0,300
0,300
0
400
1,080
0,270
300
90
1,620
0,270
400
300
2,650
0,265
200
200
5,000
0,250
1.000
1.030
5
6
Nettoumsatz alt in €/Pe
Nettoumsatz neu in €/Pe
30,00
12,00
0,00
108,00
81,00
24,30
106,00
79,50
50,00
50,00
267,00
273,80
7
8
Var. Stückkosten in €/ME
Var. Stückkosten in €/BE
0,14
0,140
0,60
0,150
0,88
0,147
1,45
0,145
2,70
0,135

9
10
Deckungsspanne in €/ME
Deckungsspanne in €/BE
0,160
0,160
0,480
0,120
0,740
0,123
1,200
0,120
2,300
0,115

11
12
DB alt in €/Pe
DB neu in €/Pe
16,00
6,40
0,00
48,00
37,00
11,10
48,00
36,00
23,00
23,00
124,00
124,50
Tabelle 3: Ermittlung des zusätzlichen Deckungsbetrags

Im ersten Schritt werden die Nettopreise benötigt (Zeilen 3 und 4 in Tabelle 3), welcher der Hersteller vom Handelsunternehmen erhält. Dabei ist es wichtig, dass wirklich alle Rabatte inkl. den Rückvergütungen usw. enthalten sind (vgl. zur Ermittlung der Nettopreise Varnholt/Hoberg/Gerhards/Wilms/Lebefromm, S. 133 ff.).

Damit können dann die Nettoumsätze alt und neu in den Zeilen 5 und 6 berechnet werden. Der Anstieg beträgt nur noch 2,55 % nach einem Mengenanstieg von 3 %. Im Weiteren sind die variablen Kosten zu bestimmen, weil der Deckungsbeitrag DB als Differenz von Nettoumsatz und variablen Kosten definiert ist (vgl. Varnholt/ Hoberg/ Gerhards/ Wilms/ Lebefromm, S. 423 ff.).

Vereinfachend wird angenommen, dass sich die variablen Stückkosten nach der Mengenänderung nicht verändern, auch wenn z. B. die Kartonage des Six–Packs wegen der geringeren Auflage teurer werden kann. Mit diesen Daten errechnet sich für den 1er in Zeile 10 der Tabelle 3 eine Deckungsspanne von 0,16 € pro Basiseinheit. Multipliziert mit den jeweiligen Mengen ergeben sich die Deckungsbeiträge vor und nach Einführung des 4ers in den Zeilen 11 und 12. Im Saldo sieht man, dass sich der Deckungsbeitrag kaum noch erhöht hat.

Betriebswirtschaftliche Gesamtbewertung

Die vorgenommene Ermittlung der Deckungsbeiträge mit einem (leicht) positiven Ergebnis ist die Voraussetzung dafür, dass nun die Einmalkosten für die Markteinführung des 4ers noch einbezogen werden. Dafür ist es zunächst notwendig, einen einheitlichen zeitlichen Bezugszeitpunkt für den Vergleich zu bestimmen (vgl. zu diesem "Grundgesetz der Investitionsrechnung" Varnholt/Hoberg/Gerhards/Wilms, S. 41 ff.).

Der Vergleichszeitpunkt wird als Zeitpunkt der Markteinführung (t=0) definiert, so dass alle Deckungsbeiträge erst auf diesen Zeitpunkt bezogen werden müssen, bevor ein Vergleich mit den Anfangsauszahlungen stattfinden darf. Diese Kalkulation findet sich in der folgenden Tabelle 4. Sie übernimmt die Deckungsbeiträge aus der Tabelle 3 und bildet die Differenz der Deckungsbeträge in Zeile 3 der Tabelle 4:

Vertriebskanal 2
 
Jahreszinssatz effektiv 8,00 % 8 – Monatsfaktor 1,053
Laufzeit in Jahre 5 Barwertfaktor vorschüssig 4,312
Monate vor Jahresende 4  
  Anzahl Einheiten pro Mehrstückverpackung
  1 4 6 10 20 Saldo
1
2
DB alt in €/Pe
Db neu in €/Pe
16,00
6,40
0,00
48,00
37,00
11,10
48,00
36,00
23,00
23,00
124,00
124,50
3 Wachstum DB in €/PE –9,60 48,00 –25,90 –12,00 0,00 0,50
4
5
6
Wachstum am Anfang t = 0
Barwertsumme DBs in €0
Kumulierte Barwerte in €0
–9,12
–39,33
–39,33
45,60
196,63
157,30
–24,60
–106,10
51,21
–11,40
–49,16
2,05
0,00
0,00
2,05
0,47
2,05
Tabelle 4: Barwertbildung der zusätzlichen Deckungsbeiträge

Nun tritt ein Problem auf, welches in den bisherigen Ausführungen nicht beachtet wurde, weil es in der Periodenrechnung nicht sehr ergebnisrelevant war. Aber sobald ein Wechsel in die langfristig orientierte Investitionsrechnung erfolgt, müssen die zeitlichen Aspekte berücksichtigt werden.

Denn die Unternehmen erhalten ihre Zahlungen ja nicht erst am Jahresende oder bezahlen nicht erst am Jahresende. Es geht somit darum, die Deckungsbeiträge in Zahlungen zum Jahresende zu überführen (vgl. zu den Details Hoberg (2022), S. 1 ff.). Es sei dementsprechend angenommen, dass die durchschnittliche Zahlung aus den Deckungsbeiträgen nach 8 Monaten kommt. Da die Zahlungen aber zum Startzeitpunkt verglichen werden sollen, müssen sie um 8 Monate abgezinst werden. Alternativ hätte man auch um 4 Monate auf das Ende des Jahres aufzinsen können.

Mit dieser Operation ist dann sichergestellt, dass die Zahlungen entweder zum Jahresanfang oder Jahresende bezogen sind, was die implizite Voraussetzung für die Anwendung der Investitionsrechnung darstellt. Bei einem effektiven Jahreszinssatz von 8% ergibt sich der 8–Monatszinsfaktor zu 1,08(8/12) = 1,053 (vgl. zu dieser intraperiodischen Verzinsung Varnholt/Hoberg/Gerhards/Wilms, S. 29 ff.). Mit diesem Zinsfaktor kann abgezinst werden.

Der DB–Verlust von –9,6 € in Zeile 3 (Einstückverpackung), der durchschnittlich nach 8 Monaten kommt, ist per t = 0 dann –9,6 / 1,053 = –9,12 €0 wert. Die Währungseinheit ist mit einem Zeitindex – hier für t = 0 – versehen (vgl. zu dieser präziseren Schreibweise Hoberg (2018), S. 468 ff.). Diese Operation wird auch für die anderen Verpackungen durchgeführt.

Es wird nun angenommen, dass der neue 4er ca. 5 Jahre im Sortiment bleibt. Der Einfachheit halber wird unterstellt, dass sich die Zahlungen in den 5 Jahren nicht ändern. Dann kann mit dem vorschüssigen Barwertfaktor (vgl. Hoberg (2020), S. 1 ff.) bestimmt werden, welchen Wert die Zahlungen aller 5 Jahre per t = 0 aufweisen. Wie im Kopf der Tabelle 4 aufgeführt, beläuft sich der vorschüssige Barwertfaktor auf 4,312 € / €1;5. Damit ergibt sich die Barwertsumme in Zeile 5 für den 1er zu 4,312 × –9,12 = –39,33 €0. Die gleiche Operation wird auch für die weiteren Gebinde durchgeführt. Die letzten beiden Zeilen zeigen, dass die Barwertsumme aus den Deckungsbeiträgen durch das neue 4er Gebinde pro Geschäft und Woche um 2,05 €0 steigen würde.

Es galt die Annahme gleicher Zahlungen in den 5 Jahren. Bei sich im Zeitablauf ändernden Zahlungen empfiehlt sich die Anwendung eines Vollständigen Finanzplans (VoFi), mit dem auch komplizierte Zahlungsströme bewertetet werden können (vgl. Varnholt/ Hoberg/ Gerhards/ Wilms, S. 55 ff.). Am Ende steht dann auch die Barwertsumme eines durchschnittlichen Geschäfts. Wenn die Daten (Menge, Wert) des betrachteten Ladens in etwa dem Durchschnitt entspricht, kann die Barwertsumme mit der Anzahl der Läden und der Anzahl der Wochen multipliziert werden, um herauszufinden, welcher Betrag maximal in den Start des neuen 4ers investiert werden kann.

Aus Gründen der Einfachheit war für die Beispiele angenommen worden, dass das eigentliche Produkt – die Basiseinheit – immer gleich blieb, so dass "nur" der Effekt der richtigen Mehrstückverpackung analysiert werden musste. Komplizierter wird es, wenn auch das Basisprodukt verändert wird, indem z. B. der Inhalt variiert wird, z. B. wie im Werbespruch "jetzt mit 20% mehr Inhalt". Hier ist der Controller besonders gefordert, weil die Konsequenzen in den Produktionskosten nur schwer zu erfassen sind.

Einfach sind nur die zusätzlichen Kosten der Mehrmenge zu erfassen. Häufig sind dann z. B. die Taktzeiten der Anlagen bei mehr Inhalt länger, was Mehrkosten bedeutet. Zudem erhöhen sich die Lagerkosten. Das Gegenteil – nämlich eine Inhaltsverringerung – ist zurzeit leider populär. Sie wird aber verständlicherweise nicht beworben. Ob die geringe Einsparung bei den Inhaltskosten die zusätzlichen Produktionskosten wert ist, darf bezweifelt werden. Zumal die Gefahr besteht, von Verbraucherorganisationen an den Pranger gestellt zu werden und den Kunden zu verärgern (, wenn er es merkt). Auch bei geringerem Inhalt gilt, dass die Produktionskosten eher steigen, weil von Standardgrößen abgewichen wurde. Aber die Vorgehensweise der Bewertung über die Änderungen der Deckungsbeträge bleibt gleich.

Weitere Kannibalisierungen

In Marktwirtschaften wird es fast immer zu Eintritten von Konkurrenz kommen, wenn die Märkte lukrativ sind. Die Einführung des neuen 4ers wird nicht unbeachtet bleiben. Bei Erfolg wird die Konkurrenz nachziehen. Daher dürfen Unternehmen nicht ohne Beachtung der Konkurrenzreaktionen agieren, was leider in vielen Unternehmen die Regel ist. Da wird auf Basis der aktuellen Preise eine Einordnung der Innovation in das Konkurrenzumfeld vorgenommen, ohne zu berücksichtigen, dass sich die Konkurrenten mit eigenen neuen Maßnahmen wehren werden. Bei Beachtung dieser Reaktionen kann man von antizipativer Marktanalyse reden (vgl. Hoberg (2017), S. 30 ff.).

Es empfiehlt sich eine zweistufige Vorgehensweise:
  1. Vor Einführung des neuen Produktes In der Phase vor dem Markteintritt des neuen Produktes muss das Unternehmen somit genau wie möglich versuchen, die Konkurrenzreaktionen zu antizipieren. Diese Reaktionen werden meistens einen negativen Einfluss auf die verkaufbaren Mengen und auf die durchsetzbaren Nettopreise ausüben. 
  2. Nach Einführung des neuen Produktes Nach Markteinführung ist zu überprüfen, ob die erwarteten Konkurrenzreaktionen eingetreten sind. Hat die Konkurrenz anders als erwartet reagiert, muss solange nachgesteuert werden, bis sich wieder stabile Verhältnisse am Markt etabliert haben. In dieser Phase des Einschaukelns der Mengen und insb. der Preise ist die Gefahr groß, dass es zu einem Preiskrieg kommt, der häufig alle Anbieter zu Verlierern macht.

Gefragt ist somit ein gutes Absatzmarktcontrolling, um Chancen nutzen und Risiken begrenzen zu können. Die Reaktionen der Kunden können auch die Produktkategorie überschreiten. Wenn z. B. ein bestimmtes Fahrzeug nur als 2–Türer angeboten wird, weil z. B. die zusätzlichen Pressen für die Karosserie des 4–Türers zu teuer sind, so kann das Unternehmen hoffen, dass der Kunde ev. ein Fahrzeug einer höheren Kategorie aus dem eigenen Unternehmen erwirbt.

Im erwähnten Beispiel der Sortimentsstraffung bei VW, wird nicht der gesamte Absatz der gestrichenen Varianten verloren gehen. Ein Teil der Mengenverluste wird z. B. durch andere Konzernmarken aufgefangen werden, so dass nur die erwarteten Austauschbeziehungen zu analysieren sind.

Unterschiedliche Absatzkanäle

Eine weitere Kannibalisierung kann auch zwischen Absatzkanälen auftreten. In diesem Fall wird die Abschätzung der Folgen noch komplizierter. Beispiele sind traditioneller Handel vs. Discounter oder auch die Absatzpolitik in verschiedenen Ländern, welche die Gefahr von Reimporten (Cross–Border Verkäufe) mit sich bringen. Letztere sind besonders für die Autohersteller relevant, weil inzwischen schon viele der in Deutschland zugelassenen Fahrzeuge aus dem Ausland kommen, insb. durch Reimporte.

Eine Entscheidung, z. B. in Dänemark mit seinen hohen Mehrwertsteuersätzen, kann somit Auswirkungen auf andere Märkte ausüben, in denen die Fahrzeuge teurer verkauft werden. Dies war in den vergangenen Jahren vor allen Dingen deswegen problematisch, weil die günstigen dänischen Preise nur geringe Mengen brachten, aber für viel Ärger in den großen Märkten sorgten. Umgekehrt wurden aus Deutschland zahlreiche E–Autos exportiert, kurz nachdem die E–Autoprämie kassiert wurde.

Weitere Kannibalisierungen müssen auch befürchtet werden, wenn Lieferservice an die Haustür alternativ angeboten wird. Dann kommt es darauf an, in welchem Vertriebskanal die umfassenden Deckungsbeiträge besser sind. Im Lieferservice müssen somit die durchschnittlichen Lieferkosten berücksichtigt werden, im stationären Handel auch die Kosten an der Kasse und im Ladenlokal.

Schlussbetrachtung

Bei allen Vermarktungsentscheidungen muss geprüft werden, ob an andere Stelle negative Konsequenzen auftreten können, was sich z. B. in Form von Kannibalisierungen zeigen kann. Zum Schluss soll noch ein üblicher Fehler aufgezeigt werden.

Viele Unternehmen, die wachsen, exportieren zunächst ihre Produkte in Auslandsmärkte. Wenn das Geschäft gut läuft, muss dann irgendwann entschieden werden, ob eine eigene Produktion im Zielland aufgebaut werden soll. Dafür werden im Land Wirtschaftlichkeitsrechnungen angestellt. Bei der letztendlichen Entscheidung aber wird fast immer übersehen, dass bei Durchführung die Deckungsbeiträge im Heimatland entfallen werden. Kannibalisierungen in vielfältiger Form lauern somit an vielen Stellen. Der Controller ist aufgerufen, diese zu entlarven, um zu realistischen Kalkulationen zu kommen.




letzte Änderung P.D.P.H. am 22.06.2023
Autor:  Prof. Dr. Peter Hoberg


Autor:in
Herr Prof. Dr. Peter Hoberg
Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Hochschule Worms. Seine Lehrschwerpunkte sind Kosten- und Leistungsrechnung, Investitionsrechnung, Entscheidungstheorie, Produktions- und Kostentheorie und Controlling. Prof. Hoberg schreibt auf Controlling-Portal.de regelmäßig Fachartikel, vor allem zu Kosten- und Leistungsrechnung sowie zu Investitionsrechnung.
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