Controlling kann Qualität sichtbar machen

Unternehmensberaterin Gabriele Heller über Controlling in der Pflege

Wolff von Rechenberg
Pfiffe und Protest begleiteten Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) im Juni 2018 auf seinem Weg in die Gesundheits- ministerkonferenz in Düsseldorf. 4.000 Pflegekräfte hatten sich nach Gewerkschaftsangaben zu einer Demonstration versammelt. Motto: „Mehr von uns ist besser für alle!“ Die Bundesregierung hat sich im Koalitionsvertrag verpflichtet, 8.000 neue Stellen in der Pflege zu schaffen. Spahn sattelte im Mai 2018 noch einmal drauf: 13.000 neue Stellen sollen in der Pflege entstehen. Kritiker sprechen allerdings vom sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein.
  
Wie groß der Bedarf ist, darüber gehen die Angaben auseinander. Der Deutsche Gewerkschaftsbund spricht von 80.000 fehlenden Arbeitsplätzen in der Pflege, die Diakonie geht von mindestens 38.000 fehlenden Pflegekräften aus. Einig ist man sich allerdings, dass schon heute zahlreiche Arbeitsplätze in der Pflege nicht besetzt werden können. Den tatsächlichen Bedarf könnte ein professionelles Controlling ermitteln – und es könnte helfen, das Image der Pflege bei Angehörigen, Arbeitskräften und in der Öffentlichkeit zu verbessern. Doch in vielen Häusern fehlt es noch an der nötigen Einsicht, beklagt Unternehmensberaterin Gabriele Heller aus Bayern im Gespräch mit Controlling-Journal. Sie berät soziale Einrichtungen in Sachen Controlling.

Frau Heller, was unterscheidet das Controlling im sozialen Bereich von dem in anderen Branchen?

Gabriele Heller: Soziale Einrichtungen erfüllen eine volkswirtschaftlich relevante Aufgabe, sind im Kern aber nicht wirtschaftlich orientiert. Die Wirtschaftlichkeit ist eher ein Nebeneffekt. Dadurch haben diese Organisationen andere Stakeholder, die einander zum Teil aber auch widersprechen. Die Gesellschaft stellt zum Beispiel andere Anforderungen als ein Kostenträger, also eine Krankenkasse oder die Kommune. Ein weiterer wichtiger Stakeholder, die Klienten, haben wieder andere Ansprüche.

In Sachen Wirtschaftlichkeit verfolgt eine soziale Einrichtung also andere Ziele als beispielsweise ein Industrieunternehmen, das ja zuallererst Profit erwirtschaften muss?

Heller: Genau das meine ich damit. Beispielsweise ein Fördermittelgeber erwartet ja keine Rendite, wie ein Investor. Er möchte die Mittel zweckgebunden und effizient eingesetzt wissen. Er selbst zieht daraus keinen betriebswirtschaftlichen Gewinn. Das bedeutet für das Controlling, dass wir im sozialen Bereich sehr viele nicht finanzielle KPIs haben.



Können Sie dafür ein Beispiel nennen? Wie würde man beispielsweise in der Pflege oder in Betreuungseinrichtungen Erfolg messen?

Heller: Wir schauen uns zunächst das Leitbild einer Einrichtung an und richten dann ein Wirkungscontrolling danach aus. Nehmen wir an, eine Pflegeeinrichtung erklärt zur Mission die Verbesserung der Lebensqualität ihrer Bewohner. Für die Lebensqualität gibt es medizinische Definitionen, natürlich immer abhängig von Vorerkrankungen, von der Behinderung und vom Alter. Im Controlling versuchen wir herauszuarbeiten, wie nahe das Haus seinem Ziel kommt. Und wir können berechnen, was zu tun wäre damit das Ziel vollständig umgesetzt werden kann.

Ganz simpel würde man doch denken, dass eine Einrichtung ihr Ziel erreicht hat, wenn alle Plätze belegt sind. Können Sie Beispiele nennen, wie man darüber hinaus Ziele misst?

Heller: In einigen Einrichtungen ist das auch heute noch so. Wo es weit und breit nur ein Pflegeheim gibt, fällt die Auslastung leichter. Weil die Menschen gern in der Nähe ihres Heimatortes bleiben wollen und dafür auch Nachteile in anderen Bereichen in Kauf nehmen. In größeren Städten stehen die Anbieter in Konkurrenz zueinander, vor allem im Behindertenbereich. Als Angehörige kann ich mir also das Haus aussuchen. Und dann möchte ich nicht nur ein schönes Leitbild im Eingang hängen sehen, sondern ich möchte wissen: Wie werden die Ziele eingehalten? Das lässt sich beispielsweise durch Patientenbefragungen belegen: Wie hat sich das Leben des Betroffenen hier in der Einrichtung verbessert? Was hat er dazugelernt? Wie gestaltet sich die Freizeit? Wie wird das Bundesteilhabegesetz gelebt und umgesetzt? Diese Umfragen bei Bewohnern oder Klienten ergeben manchmal erstaunliche Ergebnisse, die das Personal so gar nicht wahrnehmen würde.

Befragungen sind sehr aufwändig. Gibt es auch messbare Indikatoren dafür, wie gut eine Einrichtung ihre Ziele erreicht?

Heller: Das kommt sehr auf den konkreten Fall an. In Behinderteneinrichtungen könnte man zum Beispiel messen, wie viele Klienten den Sprung auf den zweiten Arbeitsmarkt oder sogar auf den ersten Arbeitsmarkt geschafft haben. In der Altenpflege kann ich die Häufigkeit von bestimmten Nacherkrankungen auswerten oder die Quote der Bewohner, die mit Sondennahrung ernährt werden. Das kann auch medizinische Gründe haben. Leider kommt es aber auch vor, dass keiner die Zeit hat, jemanden mit Schluckbeschwerden zu füttern. Bei Angehörigen sind diese Dinge mittlerweile im Fokus. Wenn ein Haus auf 100 Betten im Schnitt immer zehn Fälle mit Sondennahrung hat, das Nachbarhaus aber nur fünf, dann ist das den Angehörigen zu hoch.

Das heißt, diese Leistungsziele werden immer häufiger von den Angehörigen nachgefragt?

Heller: Das kommt von den Angehörigen. Aber auch die Kostenträger fragen immer häufiger nach erreichten Zielen. Sie wollen wissen, was mit dem Pflegesatz passiert. Als wir vor zehn Jahren mit Controlling im sozialen Bereich angefangen haben, hat das niemanden interessiert. Da hat man einen Pflege- oder Betreuungssatz X bekommen. Den hat man verwendet, wie man es für richtig hielt. Inzwischen sind die Anforderungen größer.

Soziale Einrichtungen haben sehr viel höhere Personalkostenanteile als Industriebetriebe. Zum großen Teil legen staatliche Vorgaben wie Pflege- oder Betreuungsschlüssel die Personalstände fest, und die allermeisten Einrichtungen bezahlen Tariflöhne. Welche Spielräume hat Controlling in sozialen Einrichtungen?

Heller: Der Pflegeschlüssel liegt tatsächlich fest, wenn auch regional unterschiedlich. Wir werten ihn aber trotzdem aus, denn er hängt von der tatsächlichen Belegung ab. Es kommt immer wieder vor, dass Bewohner zwischendurch im Krankenhaus liegen oder einige Tage oder Wochen bei ihren Angehörigen verbringen.

Durch eine detaillierte Auswertung im Controlling kann ich beispielsweise dem subjektiven Eindruck entgegensteuern, dass ständig zu wenig Personal im Einsatz ist. Ich kann Prozesse abbilden und schauen, warum sich das Personal überfordert fühlt. Vielleicht wird ja an den falschen Stellen zu viel Arbeitszeit verschwendet. Ich kann aber auch objektiv nachweisen, wenn eine Einrichtung sogar überver- sorgt ist mit Personal.

Mit einem Controlling steigt die Arbeitsbelastung und verschlechtert sich die Qualität des Produkts. Diese Angst geht hartnäckig in Belegschaften um – in der Privatwirtschaft wie im öffentlichen Dienst. Wie oft sehen Sie sich in Ihrer Arbeit mit diesem Vorurteil konfrontiert und wie begegnen Sie diesen Ängsten?

Heller: Wir sind häufig damit konfrontiert. Wir arbeiten ja in einem Bereich, in dem es schon viele Dokumentationsvorschriften gibt, beispielsweise die medizinischen Dokumentationen in der Pflege. Da gibt es die Angst: Jetzt kommt noch ein Controlling oben drauf, die bringen noch einmal fünf Formulare mit und sagen uns dann, wie wir besser pflegen sollen. Das ist überhaupt nicht unser Anliegen. Zum einen ist in unserem Bereich die Digitalisierung voll angekommen. Das bedeutet, dass ich ein System brauche, eine Software mit der ich aus den Vorsystemen die Daten auslesen kann. Aus der Pflegedokumentation, aus dem ERP-System, aus der Dienstplanung etcetera. Das kann ich durch eine Schnittstelle in das Controlling-System einlesen. Die Pflegedienstleitung oder auch die Küchenleitung haben damit erst einmal nichts zu tun.

Sie haben die Küche in den Einrichtungen angesprochen. Ist die Ernährung ein reiner Kostenfaktor, oder gibt es Wechselwirkungen?

Heller: Da gibt es große Wechselwirkungen. Abhängig vom Bundesland haben Sie in einem Seniorenheim einen Verpflegungssatz von 3,80 Euro am Tag – für alle Mahlzeiten und Getränke. Wenn ich mir nur die reinen Beträge anschaue, kann ich einem Küchenleiter am Ende des Jahres natürlich nur gratulieren, wenn er stattdessen mit 3,60 Euro am Tag ausgekommen ist. Denn er hat ja toll gewirtschaftet. Aber das sagt überhaupt nichts darüber aus, was da auf den Tisch gekommen ist. Wie zufrieden waren die Bewohner mit dem Essen? Da sind wir wieder beim Wirkungscontrolling. Man weiß mittlerweile aus Studien, dass den Menschen das Essen nicht schmeckt, wenn es zum großen Teil aus Convenience-Produkten besteht, und dass daraus ein Mehraufwand in der Pflege folgt. Wenn ein Küchenleiter frisch kocht und regional kocht, dann hat das eine starke soziale Komponente. Die Menschen freuen sich auf einen leckeren Schweinebraten mit Klößen. Sie stehen auf, gehen in den Speisesaal, weil sie die Mahlzeiten gerne essen. Auch diese soziale Komponente schauen wir uns an und fragen: Wie zufrieden sind die Menschen mit dem Essen. Es kann sich am Ende durchaus lohnen, auf den Pflegesatz von 3,80 Euro, den ich finanziert bekomme, noch einmal 30 Cent draufzulegen. Das ist ein günstiges Marketinginstrument. Wenn das Essen gut ist, spricht sich das herum. Wenn ich dadurch einen Pflegeplatz belegt habe, der sonst leer geblieben wäre, dann hat sich der Mehraufwand gerechnet.

Der Fachkräftemangel in Pflegeeinrichtungen ist sprichwörtlich. Wie kann Controlling in diesem Punkt das Management von Heimen und Kliniken unterstützen?

Heller: Wir können eine Qualität des Hauses sichtbar machen. Ich kann Pflegeabläufe optimieren und die Nachhaltigkeit meines Hauses nach außen kommunizieren. Meiner Ansicht nach, liegt der Pflegemangel nicht an den Gehältern, die sind ganz ordentlich. Aber die in der Pflege tätigen Menschen scheiden häufig wegen zu großer Arbeitsbelastung aus oder wechseln den Arbeitsplatz – auch teilweise aufgrund der fehlenden Anerkennung für ihre Qualifikation. Die kommen auch nicht zurück. Die sind für den Arbeitsmarkt verloren. Da hilft es nicht, wenn ich 200 Euro mehr im Monat verspreche. Aber wenn ich es schaffe, Budgets nach der tatsächlichen Arbeitsbelastung zu verteilen, wenn ich Abläufe optimiere, damit die Arbeitsbelastung für die einzelne Mitarbeiterin oder den einzelnen Mitarbeiter sinkt, dann spricht sich das schnell herum. Ebenso umgekehrt, wenn ein Haus wegen seiner Arbeitsbedingungen einen schlechten Ruf hat. Und Pflegekräfte können sich ihren Arbeitsplatz aussuchen. Wenn ein Bewerber über eine Einrichtung Kennzahlen für nachhaltiges Management liest, oder über die Zufriedenheit der Bewohner, dann kann das schon den Ausschlag geben.

Wie weit schätzen Sie die Verbreitung eines modernen Controllings im sozialen Bereich?

Heller: Wir sind seit 10 Jahren am Markt. Am Anfang hat man uns ausgelacht. Wir haben Sprüche gehört, wie etwa: „Wenn mein Defizit jedes Jahr gleich bleibt, habe ich schon gut gearbeitet.“ Mittlerweile hat sich die Finanzierung geändert. Die Träger können nicht mehr unbegrenzt auf Fördertöpfe zugreifen. Die Notwendigkeit eines modernen Controllings ist überall angekommen. In der Realität sehen wir immer noch häufig, dass man sich mit vielen Excel-Tabellen viel Arbeit macht. Dafür gibt es dann eine Stabsstelle. Der Controller oder die Controllerin ist oft eine Arbeitskraft aus der Buchhaltung, die ein paar Stunden zusätzlich bekommen hat. Für ein modernes Controlling reicht das Budget in diesen Fällen nicht – weder zeitlich noch finanziell. Man scheut oft noch Investitionen an der Stelle, weil die Verwaltung als eine Art Hilfskostenstelle gesehen wird. Dass dies Auswirkungen auf den gesamten Betrieb nach sich zieht, ist noch nicht überall in den Köpfen angekommen.



Gabriele Heller, Beraterin, Controllerin, Heller ConsultGabriele Heller
ist Betriebswirtin, Systemische Organisationsentwicklerin und Systemischer Business Coach. Als Gründerin und Geschäftsführerin der Beratungsagentur Heller Consulting GmbH im bayerischen Stein berät sie seit 2005 soziale Einrichtungen und Non-Profit-Organisationen in Sachen Controlling. Zuvor war sie als Finanzreferentin beim FrauenWerk Stein e.V. tätig, einem freien Träger der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (Foto: Heller Consult)

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letzte Änderung W.V.R. am 25.01.2022
Autor:  Wolff von Rechenberg


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Herr Wolff von Rechenberg
Wolff von Rechenberg ist Wirtschaftsjournalist und versorgt seit 2012 die Fachportale der reimus.NET mit News und Fachartikeln.
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